Gerade angeliefert, nur noch wenige Exemplare verfügbar! Das Erstlingswerk „In Schulung“ von Stefan Rauter ist ein autobiografisches. Ungeschönt schreibt mein Cousin über sein Leben mit einer schizoaffektiven Störung. Barbara meint, das Talent zum Schreiben liegt zweifelsohne in der Familie. „Weil Hummeln fliegen“ lautet der Titel meines Buches. Unveröffentlicht. Im Gegensatz zu und um eine Formulierung von Stefan aus seiner Publikation zu entleihen „habe ich den Scheiß noch nicht fertig geschrieben.“
Ein Auszug:
Als mich Wien wieder lieben lehrte, war es 22 Uhr. Ich konnte nicht schlafen. Ich schlief in Wien generell wenig. Dejan war schon zu Bett gegangen und ich wollte ihn nicht stören. So verließ ich mit Handy und Kopfhörern mein Heimzimmer. Am Naschmarkt war es verhältnismäßig ruhig, denn es war Herbst und die Witterung nicht angenehm. Nur die vielen Beleuchtungen täuschten Leben vor. Ich drehte meine übliche Runde, wenn ich abends nicht schlafen konnte. Die Wienzeile hinunter vorbei an der Oper und durch die Kärntner Straße Richtung Stephansplatz. Bei meinen Spaziergängen war Wien für mich dieser Ausschnitt. Ich kannte hier jeden Stein und wusste, welches Geschäft auf das nächste folgte. Ich ließ, angeregt durch die Musik, meinen Gedanken freien Lauf. Ich dachte wieder einmal über mein Leben nach; mein seltsames, verpfuschtes Leben. Gesichter aus meinem Leben tauchten auf. Ich analysierte Situationen, in denen ich mich nicht optimal verhalten hatte, und wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich lebte mein Leben in Gedanken oft mehrmals. Es war ein Strom an Erinnerungen. Ich versuchte die Songs so auszuwählen, dass die positiven Erinnerungen überwiegten. Nichts fiel mir schwerer. Ich habe einmal einen kurzen Text zu Erinnerungen geschrieben. Am Abend huschen die Menschen von den Straßen, schauen nicht links, nicht rechts, verschließen Türen und erleuchten Fenster in den Kulissen neben und vor allem hinter mir. Aber meine Augen bleiben geschlossen. Der Weg ist ein bekannter. Jeder Schritt ein gezählter. Über den Asphalt, der jetzt aufgehört hat zu schwitzen, während die Knospen der Blumen sich gerade öffnen und ich ihre Ausdünstungen gierig aufsauge und warte, bis sich mein Hirn in Erinnerungen verliert. Ontario seh ich vor mir. Am vierten Juli. Als wir auf einem ausgedienten Fischkutter, sechs Knoten, als Kanadier die Amerikaner feierten. Als Alkohol und Feuerwerk unsere Gesichter erleuchteten und die Wogen sich am Bug teilten. Als ich eine Schweizerin liebte, weil ihre Worte ihre waren und die Finnin nur blökte. Im Nachtzug von Marseille nach Paris blieb mir nur der Boden, wo ich hoffte, dass die Schlafenden in den Gepäcksnetzen über mir leicht gegessen hatten und der Schaffner mich im Dunkeln nicht tottreten würde. Bis eine Französin, mit großen, müden Augen, mich um Batterien fragte und später meinen Bauch als Polster benutzte. Ich ihr bis Paris durch die Haare strich, um in ihren Träumen vorzukommen. In Mombasa war das Buffet groß und das Wetter heiß gewesen. Und die Tschechin versuchte nicht auch noch betrunken zu werden. Unsere Füße malten im Sand, aber gesehen hat doch jeder was Anderes. In Irland hatte jedes Haus eine andere Farbe, aber das Meer und die Wiesen schluckten sie alle. Bis auf die in Dublin, wo nur Leben war und ich Le Faye traf. Hier sind es nur noch wenige Schritte. Über der Tür sind die Schatten schon lang. Oben wartet die Bosnierin, die mir vom Krieg erzählt hat und dass beim Begräbnis ihres Vaters tausend Menschen waren. Danach aber noch lachen konnte. In der Kärntner Straße, dieser seltsamen Mischung aus Trash-Souvenirläden und Nobeljuwelieren, sah ich dann sie. Eine Straßenmusikantin. Sie stand da und spielte Geige, was ich anfangs nur sah und nicht hörte, da ich meine Kopfhörer aufhatte. Sie war wunderschön. Ich habe sie ganz genau vor Augen. Ich weiß noch genau, wie ihr Haar fiel, die Formung ihrer Wangenknochen, wie sich ihre Brüste unter ihrem Shirt abzeichneten und wie wunderschön ihr Becken und ihre Beine waren. Am meisten aber faszinierte mich, wie sie sich bewegte. Ein geschmeidiges Hin- und Herwiegen. Sie war eins mit ihrem Instrument. Ich nahm die Kopfhörer ab und setzte mich auf eine nahe Bank. Sie spielte wie eine Göttin. Ja: Sie war eine Göttin. Es überwältigte mich so vollkommen, dass ich es nicht länger als vielleicht fünf Minuten aushielt. Ich höre oft die besten Musikerinnen der Welt. War bei den Philharmonikern und habe alle Schauspielerinnen des Burgtheaters in Stücken gesehen. Doch niemals war mir Kunst so nah. Es war der perfekte Moment. Ich liebe diese Straßenmusikerin noch heute. Ich ging oft spazieren und hoffte insgeheim, sie wiederzusehen. Doch das passierte nie.
Foto © IPR/Stefan Rauter